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22.01.2025 - Das Salberghaus im Wandel der Zeit


Stephan Dauer, ehemaliger Leiter des Salberghauses, blickt auf fast 30 Jahre in der Einrichtung zurück. Im Interview mit Christina Beischl spricht er über die Herausforderungen bei der Rekrutierung und Weiterentwicklung von Fachpersonal und wie er dabei stets die Qualität der Einrichtung im Blick behielt. Besonders interessant ist sein Ansatz zur Krisenbewältigung in schwierigen Zeiten sowie sein maßgeblicher Beitrag zur Entwicklung eines eigenen Fortbildungsprogramms für die Mitarbeiter.
 

Stephan Dauer beim Kindersommerfest 2016 Foto: Salberghaus
 
Wann haben Sie im Salberghaus begonnen?
Ich bin im November 1991 ins Salberghaus gekommen und habe dann im Juli 2020 aufgehört.
 
In welcher Funktion haben Sie damals angefangen?
Ich wurde damals als Erziehungsleiter im stationären Bereich eingestellt und war für fünf Wohngruppen mit Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren zuständig, darunter auch Säuglinge ab der zweiten Lebenswoche. Zu Beginn gab es im Salberghaus zehn Wohngruppen, und es war eine reine stationäre Einrichtung.
 
Wie entwickelte sich Ihre Rolle weiter?
Nach etwa zehn Jahren übernahm ich die pädagogische Leitung für das gesamte Haus. Es gab einen Leitungswechsel, und obwohl ich ursprünglich nicht die Gesamtleitung übernehmen wollte, habe ich mich um die inhaltliche Arbeit gekümmert, während der neue Gesamtleiter vor allem die Außenkontakte pflegte. Gemeinsam entschieden wir, dass es sinnvoll wäre, das Salberghaus breiter aufzustellen und nicht nur stationär zu arbeiten. Wir richteten eine zusätzliche Vorschul-HPT-Gruppe ein und entwickelten dann die erste Kinderkrippe in München unter unserer Trägerschaft. Der Bedarf an Krippenplätzen wurde in der Stadt immer größer, und wir bauten über die Jahre vier weitere Kindertagesstätten im ambulanten Bereich auf. Zwei dieser Einrichtungen betreuten wir in Zusammenarbeit mit der Stadt München, darunter auch eine Einrichtung in der Messestadt Riem. Es war ein ständiger, teils mühsamer Prozess, da wir für jede neue Einrichtung Genehmigungen und Betriebserlaubnisse einholen mussten und immer auf der Suche nach qualifiziertem pädagogischen Personal waren.
Was waren Ihre Hauptaufgaben als Gesamtleiter?
Als ich 2014 dann die Gesamtleitung übernahm, konzentrierte ich mich vor allem darauf, den Betrieb zu stabilisieren, Mitarbeiter zu rekrutieren und die Einrichtung als attraktiven Arbeitgeber zu positionieren. Das Salberghaus wurde 2008 als erste Einrichtung der KJF mit dem „Great Place to Work“-Zertifikat ausgezeichnet. Solche Auszeichnungen halfen uns, das Haus nach außen als mitarbeiterfreundlich zu platzieren. Ein besonderes Anliegen war mir dabei die Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeiter. Wir entwickelten ein Fortbildungsprogramm, das für neue Mitarbeiter in Teilen verpflichtend war und Weiterentwicklungsmaßnahmen für erfahrene Kräfte anbot. Damit gelang es uns, die Einrichtung inhaltlich weiterzubringen und das Fachwissen der Mitarbeitenden ständig zu vertiefen.
 
Gab es in Ihrer Zeit wichtige inhaltliche Entwicklungen? 
Ja, insbesondere in Bezug auf die stationäre Unterbringung von Kleinkindern. Die Fremdplatzierung von kleinen Kindern in einer Jugendhilfeeinrichtung war seit den 1970er-Jahren sehr umstritten. Es gab große Debatten über das Säuglingsheimsterben in den 1960er-Jahren und die Auswirkungen von Hospitalismus. Wir mussten deshalb mit spezifischen inhaltlichen Maßnahmen nachweisen, dass manche Kinder in kleinen Heimgruppen besser aufgehoben sind als in Pflegefamilien. Das betrifft vor allem Kinder mit schweren Bindungsstörungen, die in chaotischen Verhältnissen aufgewachsen sind. Solche Kinder könnten in Pflegefamilien ihre traumatischen Erfahrungen reinszenieren, was oft dazu führt, dass die Familien überfordert sind und das Kind erneut aus der Familie genommen werden muss. Ein weiteres traumatisches Erlebnis, das es zu vermeiden gilt.
 

Das Salberghaus um 1980 Foto: Salberghaus
Was ist Ihrer Meinung nach die beste Betreuungsform – Heim oder Pflegefamilie?
Das muss man auch vor dem Hintergrund der Bindungstheorie einordnen. Bindungstheoretisch gesehen ist es für kleine Kinder ein großer Unterschied, ob sie in einer Pflegefamilie maximal zwei Bezugspersonen haben, oder wie im Schichtdienst sechs bis sieben. Allerdings gibt es Kinder, die stark beziehungsunsicher oder beziehungsgestört sind. Diese Kinder reagieren oft aggressiv oder ablehnend und lassen Nähe kaum zu. Für solche Fälle kann die stationäre Betreuung in kleinen Gruppen im Heim die stabilere Lösung sein, da sie dort rund um die Uhr von geschultem Personal betreut werden. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Erzieher nach ihrem Dienst in eine gewisse Distanz gehen können und mit einer objektiveren Haltung zum Kind zurückkehren.
 
Welche drei Worte beschreiben Ihre Zeit im Salberghaus?
Intensiv, anstrengend, sinnstiftend.
 
Wie hat sich die Zusammenarbeit mit den Eltern verändert?
Als ich ins Salberghaus kam, gab es einmal pro Woche einen Besuchsnachmittag, bei dem alle Eltern gemeinsam in einem großen Raum waren. Das war sehr laut, und es war schwierig, eine individuelle Beziehung zu gestalten. Über die Jahre haben wir die Elternarbeit differenziert, was gerade für Kinder aus Missbrauchsmilieus wichtig ist. Es gab eng begleitete Besuchskontakte, bei denen wir die Eltern kennenlernen und beobachten konnten, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Für uns war entscheidend, in den ersten sechs Monaten die Eltern-Kind-Beziehung zu fördern und die Chancen einer möglichen Rückführung zu evaluieren. Wenn ein Kind länger als anderthalb Jahre bei uns blieb, ging die Wahrscheinlichkeit einer Rückführung jedoch gegen null.
 

Abschlussarbeiten an der frisch eröffneten Kinderkrippe 2009 Foto: Salberghaus
 
Wie sind Sie mit skeptischen Eltern umgegangen?
Erstaunlicherweise ist es uns oft gelungen, auch mit Eltern Vertrauen aufzubauen, die uns anfangs misstrauisch gegenüberstanden. Die Eltern sahen nach und nach, dass es ihren Kindern bei uns gut ging und dass wir sie nicht stigmatisierten, sondern darauf bedacht waren, die Entwicklung des Kindes zu fördern und ihnen als Eltern weiterhin Raum zu geben.
 
Wie hat sich die Arbeit mit den Kindern in der Corona-Zeit verändert
In der Corona-Zeit war es besonders schwierig, da wir Kontaktbeschränkungen einführen mussten, um die Kinder und Mitarbeiter zu schützen. Kinder, die unsicher in Bindungen sind, hinterfragen Regeln stärker, und durch das Ausbleiben der Elternbesuche wurde das Gruppenregelwerk für die Kinder präsenter. Gleichzeitig entstanden auch mehr Sicherheiten im Alltag. Doch natürlich zeigten die Kinder auch Trauer, da sie nicht verstehen konnten, warum ihre Eltern nicht mehr kamen.

Wie haben Sie die Arbeit mit den Kindern strukturiert?
Durch unser Fortbildungsprogramm haben wir die Erziehungskompetenz der Mitarbeiter gezielt erweitert, da die Arbeit mit bindungsgestörten Kindern besondere Anforderungen stellt. Wir haben individuelle Erziehungspläne entwickelt, die alle Mitarbeitenden im Schichtdienst einheitlich umsetzen mussten. Kinder versuchen oft, die Erwachsenen gegeneinander auszuspielen, und daher war eine einheitliche Vorgehensweise wichtig, um den Kindern Stabilität zu bieten.
Als pädagogischer Leiter habe ich viele interne Fortbildungen gegeben und Mitarbeiter in Krisensituationen begleitet. Dabei ging es auch manchmal um die Frage, ob ein Kind weiterhin in der Gruppe bleiben kann oder ob es eine andere Unterbringungsmöglichkeit braucht. Gemeinsam haben wir überlegt, wie wir das Beste für das Kind erreichen können, ohne die Sicherheit der anderen Kinder in der Gruppe zu gefährden.
 
Was wären dann die nächste Schritt, wenn ein Kind nicht mehr in der Gruppe gehalten
werden kann?
Das sind Extremfälle. Das Salberghaus ist nach wie vor dafür bekannt, auch schwierigste Fälle in der Gruppe halten zu können. Das verlangt von den Mitarbeitenden jedoch extrem viel Hingabe und Ressourcen. In unseren Fortbildungen haben wir stets darauf hingewiesen, dass Mitarbeitende das ablehnende Verhalten eines Kindes nicht persönlich nehmen dürfen. Dieses Verhalten ist meist Ausdruck der biografischen Verletzungen des Kindes und sollte entsprechend verstanden werden. Ein großer Vorteil des Schichtdienstes gegenüber einer Pflegefamilie ist, dass die Mitarbeitenden nach ihrem Dienst Distanz gewinnen können. Auch wenn ein Kind vielleicht aggressiv auf sie reagiert hat – etwa durch Schlagen oder Spucken – können sie nach einer Pause mit einer neuen, objektiveren Haltung zurückkehren, ohne beim Kind Täterprofile zu entwickeln. In meinen Fachartikeln habe ich immer wieder betont, wie wichtig für bindungsgestörte Kinder der Kontext von mehreren zuverlässigen Bezugspersonen ist, im Gegensatz zu einer Pflegefamilie. Dies ist entscheidend. Für solche Kinder müssen die Mitarbeitenden kontinuierlich geschult werden.
 
Gab es Momente, die Sie besonders erfüllt haben?
Es war immer sehr erfüllend, wenn man sah, wie sich Kinder, die hoch traumatisiert zu uns kamen, gut entwickelten und entweder erfolgreich zurückgeführt oder in eine Langzeit-Pflegefamilie vermittelt werden konnten. Besonders schön war es auch, wenn sich ehemalige Kinder als Erwachsene an uns wandten, um mehr über ihre Biografie und ihre Herkunft zu erfahren. Ich fand diese Gespräche immer sehr spannend und habe es als bereichernd empfunden, wenn wir den Menschen helfen konnten, die Gründe für ihre Lebenswege besser zu verstehen.
 

2019 in einer Notaufnahmegruppe Foto: Salberghaus
Wie sind Sie mit schwierigen Situationen umgegangen?
Es gab sehr viele schwierige Situationen. Besonders im Kontext von eskalierenden Elternkontakten war es wichtig, dass die Mitarbeiter wussten, dass ich hinter ihnen stehe. Auch bei schwierigen Situationen unter den Kindern, etwa bei aggressivem Verhalten oder sexualisiertem Verhalten, wurden klare Handlungspläne erstellt, um ein sicheres Umfeld zu schaffen und die Mitarbeitenden durch solche Krisen zu begleiten.
 Welche Werte möchten Sie der nächsten Generation mitgeben?
Ich habe in meiner Zeit im Salberghaus versucht, so viel Wissen und Erfahrung wie möglich weiterzugeben.
 
Gibt es etwas, das Sie besonders vermissen?
Ja, ich habe für mein Leben gerne die Teambesprechungen und Beratungsgespräche mit den Teams geleitet. Das ist auch der Grund, warum ich nun darüber nachdenke, eventuell ehrenamtlich als Supervisor tätig zu werden.
 
Möchten Sie abschließend noch etwas sagen?
Mich erschüttert, wie sich die Erziehungsvorstellungen im Elementarbereich aktuell verändern. Ich beobachte oft Kinder, die ohne Grenzen ihre Eltern tyrannisieren, weil die Eltern ihnen keine verlässliche Beziehungsstruktur mehr bieten und die Kinder zu früh in eine diffuse Selbstbestimmung geraten. Ich fürchte, dass die langfristigen Auswirkungen dieser Erziehungsmuster sich negativ auf die Belastbarkeit dieser Kinder auswirken könnten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Mehr zur über 100jährigen Geschichte des Salberghauses  finden Sie hier